Die Macht der Jugend | Roskilde Festival 2023, © Christian Hedel
Christine and the Queens auf dem Roskilde Festival 2023 Christian Hedel
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Die Macht der Jugend | Roskilde Festival 2023

Warum das Roskilde Festival so vielen anderen Events dieser Art einiges voraus hat

03.07.2023 Daniel Meinel

Es ist nicht der erste Besuch unserer Musikredaktion auf dem Roskilde Festival (Spoiler: und auch nicht der letzte), aber trotzdem war vieles besonders an der Ausgabe 2023. Klar, da sind Acts wie Kendrick Lamar oder Lizzo, Loyle Carner oder Rosalía, verschrobene Hardcore-Bands oder kolumbianischer Jungle, die das jährliche Mega-Festival mit 130.000 Menschen zu einem Erlebnis machen.

 Christian Hedel

Da sind aber auch vor allem Köpfe dahinter, die sich seit mittlerweile 51 Jahren dieselbigen darüber zerbrechen, wie sich ein für acht Tage entfaltender Eskapismus-Safe-Space kreieren lässt, in dem sich jede:r nach eigenen Vorstellungen ausleben darf. Mit zweien dieser Köpfe hatten wir die Chance zu sprechen. Die Insights aus diesen Gesprächen machen das deutlich, was sich vorher schon hat erahnen lassen: nämlich, wie viel weiter das Roskilde - von seiner Selbstdefinition und Schwerpunktsetzung - vor allem vielen deutschen Festivals gegenüber ist. Oder andersherum und treffender: wie sehr viele deutsche Festivals in der Vergangenheit unterwegs sind.

FluxFM Musikredakteur Daniel Meinel über das Roskilde Festival

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Das Selbstverständis

Das Roskilde ist nicht einfach nur ein Festival. Fest verankert in der Region rund um die Stadt, die dem Event seinen Namen gibt, ist es eine kulturelle Tradition. Frewillige aller Altersklassen verpflichten sich Jahr für Jahr als ehrenamtliche Helfende. 25.000 waren es dieses Jahr, die zu einer großen Familie zusammengefunden haben, um das "Orange Feeling" unter die Leute zu bringen. Roskilde - das ist nicht nur ein Festival, es ist auch auch gleichermaßen Wirtschaftsfaktor und Identifikationmasse - vor allem der Jugend.

Wie sehr sich die Macher:innen als mehr als nur Organisator:innen eines Mega-Festivals verstehen wird klar, wenn sie darüber philosophieren, was sie mit ihrer Reputation und ihrem Gewicht in den nächsten 50 Jahren erreichen wollen. Sie wollen explizit Teil einer gesellschaftlichen Diskussion sein, Debatten anstoßen, selbst Input liefern, Menschen eine Bühne geben, die mit ihrer Präsenz und ihren Ideen die Welt, in der wir leben, zum besseren verändern können. Dieses Jahr wird das am deutlichsten, als Klimaaktivist:innen aus aller Welt - darunter unter anderem Luisa Neubauer - auf einer Bühne zusammenfinden und über die unterschiedlichen Ausprägungen von Klimaaktivismus diskutieren. 

Die Jugend findet aber nicht nur auf der Bühne statt, das Roskilde ist per selbst gesetzter Definition ein junges Festival. Das wird beim ersten Schlendern über das Festivalgelände klar. Ein Großteil der Helfenden ist unter 25 jahre alt, arbeitet in 6-Stunden Schichten in verschiedensten Bereichen: Catering, Cleaning, Einlasskontrollen - Jobs gibt es genug.

Per Definition ist es aber nicht nur ein junges, sondern ein gewollt "skandinavisches" Festival. Das heißt: es wird aktiv um die Jugend aus Dänemark geworben, sei es als Helfende oder Gast. "The youth is our future", sagt Thomas Jepsen. Ihm obliegt der Bereich, der fundamental ist für den Ruf, den sich das Festival über Jahrzehnte erspielt hat:

Das Booking

Thomas Jepsen ist Head of Music Programming und mit seinem Team verantwortlich für das musikalische Programm. Bis 2022 besteht diese Abteilung aus insgesamt acht Personen, die Trends aufspüren, sich live Shows rund um den Globus anschauen, abwägen, diskutieren und am Ende entscheiden, wer auf der Bühne stehen wird. Für das diesjährige Line-Up holte sich Jepsen sechs neue Leute zwischen 18 und 28 Jahren mit ins Boot - ein weiterer Beleg dafür, wo das Roskilde selbst den Schwerpunkt setzt.

Thomas Jepsen (Head of Music Programming)

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Kleine Randnotiz, die aber gerade auch mit Blick auf die deutsche Festivalbookinglandschaft spannend ist: zehn der 14 Leute im Team sind weiblich gelesene Personen. Und vielleicht liegt darin auch ein Grund, weshalb sich das Roskilde Festival keine Genderquoten-Agenda auferlegen muss. Das Gleichgewicht kommt von ganz allein, wenn die richtigen Leute in den richtigen Positionen sitzen.

Thomas Jepsen (Head of Music Programming)

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Ein vornehmlich junges, weiblich besetztes Bookingteam ist der Schlüssel dafür, am Puls der Zeit zu bleiben, Tendenzen zu erkennen, Strömungen aufzugreifen und ganz nebenbei jungen Menschen den Einstieg in ein Berufsfeld zu erleichtern, in das sich nur schwer und über gute Verbindungen ein Fuß in die Tür bekommen lässt. Spannend auch: die Qualität des Bookings hat über die Jahre zu so einer Selbstverständlichkeit beim Ticketkauf beigetragen, dass - anders als in Deutschland - nicht erst auf eine erste oder zweite Bandwelle gewartet wird. Fans vom Roskilde wissen, dass sie nicht enttäuscht werden und buchen frühzeitig ihr Ticket, damit sie am Ende nicht ohne selbiges dastehen. Denn in der Regel kommt die "ausverkauft"-Meldung, trotz der großen Anzahl an Menschen, die auf dem Gelände Platz finden, schneller als viele denken.

Das Motto

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Premiere liegt der Schwerpunkt nicht mehr nur auf dem musikalischen Programm. Sozio-kulturelle Probleme der Zeit bestimmen immer wieder die Szenerie auf dem Gelände. So haben die Organisator:innen 2018 die Prototypen der Mauer, die Donald Trump zu Mexiko hat bauen lassen wollen, auf dem Gelände ausgestellt. "Equality" - Gleichheit, war damals das Überthema, das für drei Ausgaben in verschiedensten Facetten beleuchtet wurde.

© Preston Drake-Hillyard

Das Thema der nächsten drei Festivalausgaben ist weit weniger spezisch - es geht um Utopien. Die Schaffung eines Entfaltungssspielraums steht dabei im Fokus, in dem erkundet wird, auf welche Art und Weise die Festivalbesuchenden miteinander leben wollen. Das erfasst alle Bereiche: Nachhaltigkeit, das Zusammenleben, die Erschaffung einer gemeinsamen Idee - und aus dieser Idee heraus der Wille zum Handeln. 

Christina Bilde (Spokes Woman/Head of Corporate Communications)

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Die Vagheit im Thema ist dabei - zumindest im ersten Jahr - genau so gewollt. So taucht "Utopia" als Motto auch selten sichtbar auf dem Festivalgelände auf. Im ersten Schritt soll erst eine Idee formuliert werden, bevor diese auch nach außen kommuniziert wird. "How do we build our city" ist dabei die Kernfrage aller Überlegungen - und utopische Ideen haben in der Menschheitsgeschichte schon immer das Potenzial gehabt, Diskussionen in eine Richtung zu schieben, die vorher unrealistisch erschien. An dieser Ideensammlung beteiligen sich auch die Kunstschaffenden, die mit Installationen auf dem gesamten Festivalgelände vertreten sind.

Das Camping

"How do we build our city" - bereits im Kontext der Utopia-Idee angeschnitten, steht diese Frage vor allem auf dem Campinggelände in großen geistigen Lettern über dem Meer aus Zelten und Pavillons.

Wer in die Dream City reinkommen möchte, der muss erst ein kleines Prozedere durchlaufen, das eine einzureichende Bewerbung mit einem Konzept beinhaltet, wie man selbst als Teil dieser mal größeren (bis zu 150 Menschen), mal kleineren Community - seinen eigenen Beitrag leisten kann.

Es geht um zirkulare Nachhaltigkeit, um gegenseitige Hilfestellungen, darum, Leistungen in den Ring zu werfen, der nicht das Individuum als solches ins Zentrum der Betrachtung stellt, sondern die Gesellschaft als Konstrukt - getreu dem Motto: einer Gesellschaft geht es immer nur so gut, wie dem Mitglied, dem es am schlechtesten geht. Diese Idee hat sich, neben dem Musikprogramm, zu einem Kernelement des Roskilde Festival gemausert und geht den Teilnehmenden mehr und mehr in Fleisch und Blut über. 

Das ist nur ein kleiner Einblick in eine Parallelgesellschaft, in eine Idee - nicht zuletzt in eine Utopie - deren Anspruch es ist, seine Dream City auch weit über Roskilde hinaus zu verbreiten. Inwiefern das Wirklichkeit werden könnte, hängt nicht zuletzt auch von dem ab, was das Roskilde Festival zu einem gleichermaßen beeindruckend-schönen Musik-Mega-Event und einem Gedankenkonzept macht - den Menschen. Und mit denen lohnt es sich zu beschäftigen - vielleicht ja schon 2024 in Dänemark.