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Kommentar Julie Thiede

"Der Umgang einiger Fans mit der Causa Rammstein ist ein Musterbeispiel kognitiver Dissonanz" | Kommentar

Musikredakteur Daniel Meinel über die aktuelle Debatte um Rammstein

18.07.2023 Daniel Meinel

KOMMENTAR

Eine Fahrt mit dem Zug von Brandenburg zurück nach Berlin kann schon mal zur moralischen Belastungsprobe für Geist und Gemüt werden. So viel kann ich sagen: an einem Wochenende an dem Rammstein zum Konzert in die Hauptstadt bitten, wird es nicht gerade erträglicher. 

Gegen Till Lindemann läuft seit einem Monat ein Ermittlungsverfahren, Anfangsverdacht auf ein Sexualdelikt lautet der offizielle Terminus. Aus veröffentlichten Stellungnahmen erfahren wir weitaus mehr: Drogen- und Machtmissbrauch, Übergriffe, sexueller Missbrauch und ein perfides System, das dem Rammstein-Krösus Sexualpartnerinnen zuführt - darunter mutmaßlich auch Minderjährige.

Dennoch, oder gerade deshalb: die Streamingzahlen der Band schnellen in die Höhe. Der gemeine Rammstein-Fan macht sich vielleicht ein zwei Gedanken darüber - vielleicht aber auch nicht - wischt die aber schnell wieder aus den Gehirnwindungen und rennt ihnen die Stadiontore ein. Ein Musterbeispiel kognitiver Dissonanz. "Unschuldsvermutung" schreien die einen, "selber Schuld, man weiß doch was Backstage abgeht" krakelen die anderen. Sich selbst aber in seiner Fanschaft zu hinterfragen, ob die Heldenverehrung vielleicht ein bisschen zu viel des Guten ist, keine Spur.

Es mag diejenigen geben, denen das nahe geht, die sich kritisch mit der Thematik auseinandersetzen und in letzter Konsequenz ihre Tickets zurückgeben. An ihrer Stelle ploppen aber zehn Menschen auf, die sie ihnen mit Kusshand abnehmen.

Sänger Olli Schulz meinte mal, Rammstein-Fans seien zu dumm eine Banane zu öffnen. So weit würde ich jetzt nicht unbedingt gehen, aber zumindest sind sie moralisch äußerst flexibel - gelinde ausgedrückt. Wie gut das mentale Gummiband wirklich ist, wird seit Montag weiter auf die Probe gestellt. Ein Bericht des NDR und der Süddeutschen Zeitung belegt, dass nicht nur Lindemann Dreck am Stecken hat. Zwei Frauen beschuldigen Christian "Flake" Lorenz der Vergewaltigung - unter eidesstattlicher Aussage! 20 Jahre ist das her, ermutigt von den zuvor publik gewordenen Berichten anderer Frauen treten sie mit beängstigenden Schilderung ans Tageslicht.

Ein weiterer Schlag ins ach so dunkle Fan-Herz! Und alle so: ach doch nicht "Flake" - das ist doch der immer liebe, immer nette Keyboarder von nebenan, der von dem man sich immer gefragt hat, wie so ein Saubermann in so eine Band geraten konnte. Spoiler: vielleicht nicht ganz ohne Grund. Und um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Richard Kruspe, Paul Landers, Christoph Schneider, Oliver Riedel, das Label Universal Music, das mit dem fadenscheinigen ruhen lassen aller Promoaktionen für Rammstein die größtmögliche Pseudoreaktion zeigt, die Bookingagentur MCT die sich gar nicht dazu äußert oder die Security-Firmen vor Ort - sie alle müssen von diesem groß angelegten, minutiös geplanten Prozedere gewusst haben. Und bis auf Christoph Schneider, der sich infolge der Anschuldigungen von Lindemann distanziert, wird vor allem geschwiegen - denn alle verdienen sich dumm und dämlich am gut geölten Getriebe Rammstein.

Da liegt - neben der Tatsache, dass Lindemanns Texte und Gedichte über Sex mit bewusstlosen Frauen doch nicht, die auch vom deutschen Feuilleton oft herbei geschriebene Metaebene haben - ein weiterer Hase im Pfeffer begraben: das kranke System Musikbranche, das toxisches Verhalten eher deckt als AUFdeckt, das schweigt statt laut aufzubegehren und deren Player sich spätestens jetzt selbst hinterfragen sollten, ob es ihre Cash Cows, wirklich über alle anständigen Moralvorstellungen hinaus, weiter verteidigen will.

Informationen, Beratungen und Hilfe

Solltest du selbst sexualisierte Gewalt erlebt haben, dann findest du online oder telefonisch Information, Beratung und Hilfe bei verschiedenen privaten und öffentlichen Einrichtungen.
Hilfetelefon sexueller Missbrauch: www.hilfeportal-missbrauch.de
Hilfetelefon für Frauen: www.hilfetelefon.de | 116 016
Hilfetelefon für Männer: www.maennerhilfetelefon.de | 0800 - 1239900
Telefonseelsorge: www.telefonseelsorge.de | 0800 - 1110111 | 0800 - 1110222

Anmerkung der Redaktion

Die Trennung von Meinung und Information ist uns besonders wichtig. Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin/des Autors wieder. Kommentare können und sollen eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen. Damit unterscheiden sich Kommentare bewusst von Berichten, die über einen Sachverhalt informieren und unterschiedliche Blickwinkel möglichst ausgewogen darstellen sollen.